127-Qubit: Wer heute ins Quantencomputing einsteigt, gibt morgen bei Financial Services den Ton an
Noch ist der Einsatz von Quantencomputern für Anwendungen wie schnellere und umfassendere Optionsbepreisung oder einen noch besseren Überblick bei der Risikobewertung Zukunftsmusik. Aber genau wie in der Musik gilt: Nur wer vorher geübt hat, kann mitspielen. Und gerade jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um damit anzufangen. Denn spätestens seit die Möglichkeit besteht, mit einem 127-Qubit-Prozessor zu arbeiten, kommen wir in eine Ära, in der Leistungsvergleiche zwischen Quantencomputing und klassischen Methoden ausgesprochen interessant werden.
von Dr. Stefan Woerner, IBM
Wann immer es um die Umsetzung neuer Technologien geht, gibt es Leader und Follower. Welchem Lager man sich zuwendet, hängt im Wesentlichen vom Nutzen ab, den die jeweilige Branche oder ein Unternehmen davon hat.Geht es um Quantentechnologie, sehen Experten für die Finanzdienstleistungsbranche und speziell für den Bereich Investmentbanking erhebliche Wettbewerbsvorteile.”
Kein Wunder also, dass sich hier bereits die ersten Leader abheben.
Quantencomputer könnten dort weitermachen, wo aktuelle IT-Systeme an ihre Grenzen stoßen. Zum Beispiel, wenn es darum geht, potenzielle Szenarien und Anlageoptionen umfassender zu simulieren, um so genauere Renditeschätzungen zu ermöglichen und wertvolle Hinweise für die Portfoliodiversifizierung zu liefern. Oder wenn es darauf ankommt, präzisere Ergebnisse für die Betrugserkennung zu ermöglichen. Vor der Nutzung dieses Potenzials steht allerdings eine Phase des Lernens.
Ein Quantencomputer ist wie ein neues Instrument: Um optimale Ergebnisse zu erzielen, müssen wir erst den Umgang mit ihm lernen.“
In dieser Phase geht es darum, die Theorie zu verstehen und die praktische Expertise aufzubauen, um Anforderungen richtig zu stellen und herauszufinden, was wann möglich ist. Nur so kann definiert werden, wie Branchenstandards in Zukunft aussehen können und was man braucht, um Quantentechnologie bestmöglich einzusetzen.
Ressourcen für die Zukunft
Autor Dr. Stefan Woerner, IBMDr. Stefan Woerner ist Principal Research Staff Member und Manager bei IBM Research (Webseite) in Zürich und IBM Quantum Applications Research & Software Lead. Schwerpunkte seiner Forschung sind die Entwicklung und Analyse von Quantenalgorithmen zur Optimierung, Simulation und Machine Learning sowie deren praktische Anwendungen, insbesondere im Finanzbereich.
Branchenvorreiter wie JPMorgan Chase und Goldman Sachs haben das erkannt und arbeiten bereits mit Quantentechnologie. Experten von Goldman Sachs und IBM Quantum befassen sich zum Beispiel mit ersten detaillierten Schätzungen der benötigten Ressourcen, um einen Quantenvorteil bei der Bepreisung und Risikoanalyse von Finanzderivaten zu erzielen. Dabei steht am Anfang oft das Ziel beziehungsweise die Frage: Was genau soll erreicht werden? Soll ein Preis, ein Risiko, eine Reihe von Greeks (Sensitivitätskennzahlen zur Bewertung von Finanzinstrumenten) auf eine definierte Genauigkeit hin berechnet werden? Der Weg, ein solches Ziel zu erreichen, beginnt mit der theoretischen Schätzung der dafür benötigten Ressourcen: wie etwa die Anzahl der Qubits, der Gates, der daraus resultierenden Rechenzeit. Je genauer dabei die Vorgaben sind, desto klarer die Theorie dahinter und desto zuverlässiger die Ressourcenschätzung.
Mit genauen Vorstellungen von dem, was erreicht werden soll, lassen sich zudem weitere Fragen klären: etwa die nach der Transparenz der Ergebnisse, um möglichen Vorgaben seitens der BaFin gerecht zu werden. Mit entsprechend zertifizierten Modellen als Grundlage der Berechnungen lässt sich gewährleisten, dass eventuelle Vorgaben eingehalten werden. Wenn es um Risikoanalysen geht, könnten beispielsweise etablierte Modelle als Basis genutzt und für den Quantencomputer übersetzt werden.
Von der Theorie in die Praxis
Was kann man als Bankinstitut tun, um von Quantentechnologie zu profitieren? Zurücklehnen und auf die Lösungen der anderen warten, wäre da natürlich ein verführerischer Gedanke. Das Bankwesen ist allerdings ein recht individuelles Geschäft und wer für sich einen echten Wettbewerbsvorteil erreichen möchte, muss selbst gestalten. Davor gilt es, einige grundsätzliche Fragen zu klären:
- Welche möglichen Anwendungsfälle des Quantencomputings lassen sich für das jeweilige Finanzdienstleistungsunternehmen am besten nutzen?
- Soll Quantencomputing allein oder im Rahmen eines Ökosystems angegangen werden?
- Stehen geeignete Mitarbeiter zur Verfügung, um Quantencomputer zu programmieren und zu nutzen?
Die möglichen Anwendungsfälle hängen eng mit dem jeweiligen geschäftlichen Fokus des Bankinstituts zusammen und liegen dort, wo ein Wettbewerbsvorteil besonders interessant ist. Das können Simulationsmodelle für die Risikoanalyse oder Portfoliooptimierung sein, Anwendungsfälle für die Betrugserkennung, bei der bestehende Systeme an ihre Grenzen kommen oder verbesserte Know-your-customer-Prozesse.
Um den Einsatzbereich zu klären, kann der Anschluss an ein Ökosystem wie zum Beispiel das IBM Quantum Network ein guter Einstieg sein.
Kein Bankinstitut muss Quantencomputing im Alleingang meistern. Gemeinsam mit anderen Unternehmen, akademischen Partnern und Forschungslaboren kann in einem Ökosystem mit verfügbaren Quantencomputern experimentiert werden.”
Erste Schritte, wie etwa klassische Simulationen und Open-Source Quantencomputing-Frameworks werden dabei durch Lernmaterial und gebrauchsfertige Algorithmen und Applikationen unterstützt. Allerdings fehlen in vielen Unternehmen oft die geeigneten Mitarbeiter, um Quantencomputer zu programmieren und zu nutzen. Auch Entwickler, Programmierer und Branchenexperten müssen den Umgang mit dem Quantencomputer erst erlernen. IBM bietet hier erste Zertifizierungen an. Mit der Quantum Developer Certification können Entwickler mit unterschiedlichem Hintergrund eine Zertifizierung in der Programmierung mit Qiskit erwerben. Qiskit ist ein Open-Source-Framework zur Programmierung von Quantencomputern.
Um Quantencomputing effizienter und einfacher nutzbar zu machen, hat IBM Mitte 2021 die Qiskit Runtime eingeführt. Damit können Nutzer vordefinierte und selbst entwickelte Quantum-Services auf Cloud-Basis verwenden und sie zum Beispiel in bestehende Prozesse integrieren. Dazu stehen erste Application Libraries für wissenschaftliche und geschäftliche Anwendungen zur Verfügung. Mitglieder des IBM Quantum Networks haben darüber hinaus Zugriff auf die leistungsstärkste IBM Hardware – seit Ende 2021 ist das unter anderem der 127-Qubit-Prozessor.
Um Quantencomputer so schnell wie möglich für praktische Anwendungen einsetzen zu können, in denen sie einen Vorteil gegenüber heutigen Rechnern bieten, ist es neben der Entwicklung größerer und besserer Quantenhardware fundamental wichtig, auch die entsprechende Software und Services aufzubauen. Hierbei sind es die Branchenvorreiter, zum Beispiel aus der Finanzdienstleistung, die den Weg weisen und damit den Ton angeben.Dr. Stefan Woerner, IBM
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