Finanz-Marketing: „Oft wird Big Data angestrebt, aber nur Small Data zugelassen.“
Data Science und KI sind inzwischen auch im Bereich Finance und Marketing nicht wegzudenken. Fragen, wie man Kunden durch personalisierte und datenschutzkonforme Kommunikation gewinnt und zum richtigen Zeitpunkt anspricht, gewinnen auch hier an Bedeutung. IT-Finanzmagazin hat mit Timo von Focht, Manager Strategy, Business Development und Operational Excellence beim Beratungsunternehmen Stat-Up, über Kundenansprache im Zeitalter von datenbasierten Verfahren und Künstlicher Intelligenz gesprochen.
Herr von Focht, Sie haben analysiert, wie sich die Kundenkommunikation und -ansprache bei Banken und Finanzdienstleistern mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz und datenbasierten Verfahren optimieren lässt. Wie geht das genau und was bringt es der Bank?
Timo von Focht: In unserem neuen Whitepaper zeigen wir auf, wie das Data-Science-Team eines Finanzunternehmens das Bestandskundenmarketing unterstützen kann. Zielvorgabe ist es, einen eigenverantwortlichen Prozess zu entwickeln, der den Versand von E-Mails und Briefen automatisiert anstößt. Der Inhalt der Kommunikation soll dem zu erwartenden Kundeninteresse zum Versandzeitpunkt optimal entsprechen. Dazu wird ein selbstlernender Algorithmus entwickelt. Er optimiert die Berechnung auf Basis der Kundenreaktionen und des jeweiligen Erfolgs der einzelnen Maßnahmen. Im Ergebnis entsteht ein automatisiertes System, welches das Neuzusagevolumen für identifizierte Kundensegmente prognostiziert. Anhand dieser Prognose werden Marketing-Maßnahmen eingeleitet, und durch konsequente A/B-Tests wird kontinuierlich der Erfolg der Maßnahmen kontrolliert.
Den Kunden zu tracken und so die Bedürfnisse und Wünsche zum richtigen Zeitpunkt zu erkennen, ist ja seit vielen Jahren das Ziel im (datenbasierten) Marketing. Doch wie kann man den Kunden über die gesamte Customer Journey hinweg vermessen und wie zuverlässig geht sowas?
Timo von Focht: Kunden interagieren über eine Vielzahl an Kanälen mit Finanzunternehmen. Jeder Interaktionspunkt gehört aus Unternehmenssicht zu einem anderen Cost Center mit anderen Mitarbeitern, eigenen Zielvorgaben und technischen Systemen. Dafür wurden inzwischen in vielen Banken und Versicherungen große IT- und Marketing-Lösungsstacks aufgebaut, deren Ziel es ist, den Kunden über alle Interaktionspunkte zu vermessen und die bestmöglichen Inhalte und Kampagnen automatisiert an den Interessenten oder Kunden auszuspielen.
Doch klaffen oft Lücken zwischen der erwarteten Performance dieser Lösungen, basierend auf den Versprechen der jeweiligen Anbieter, und der Realität. Oft sind Datenlücken durch organisatorische, technische oder gesetzliche Gegebenheiten die Ursache, teils kommen mangelnde Koordination der verschiedenen Maßnahmen und Teams oder ein fehlendes Verständnis oder eine silohafte Datenhaltung hinzu.
Es wird zwar Big Data angestrebt, aber nur Small Data zugelassen. Ein umfassendes Customer Journey Tracking erfordert daher strategisches Umdenken und die Verankerung des Kunden als entscheidenden Ankerpunkt des unternehmerischen Handelns. “
Dies wird organisatorisch durch eine zentrale Verantwortlichkeit für Kundendaten ausgedrückt, technisch durch die Integration der unterschiedlichen Datenbanken, in denen Kundendaten gespeichert werden, und praktisch durch das Erstellen eines umfassenden Kundenprofils.
Gerade die Compliance und die regulatorischen Vorgaben bei Banken (und eingeschränkt auch bei Versicherungen) sind ja strenger als in anderen Branchen. Was ist bei der Datenerhebung erlaubt und wo sind die Grenzen?
Timo von Focht: Für Banken und Versicherungen gibt es sicher mehr Hürden als in anderen Branchen, wenn es um das Erheben der Daten und ihre Nutzung geht. Im Zahlungsverkehr und bei Kontoeröffnungen werden Kontaktdaten, Identitätsdaten (Personalausweis), Bankdaten (IBAN, BIC, etc.), Schufa-Einträge, Kontostände, Überweisungen und weitere sensible Daten benötigt. Im Versicherungsbereich sind es zudem oft Risiko-Scores oder bei Krankenversicherungen auch die Gesundheitsdaten, die über die Kunden bekannt sind. Der Schutz dieser Daten vor jedwedem Missbrauch sollte für Unternehmen der Finanzbranche daher höchste Priorität haben.
Fehlende Einwilligungen ins Marketing seitens der Endkunden sind oft ein K.o.-Kriterium für die personalisierte Kundenansprache. Aus Sicht des Risikomanagements ist es aufgrund der gesetzlichen Vorgaben unabdingbar, dass die Daten zuverlässig und vor Fremdzugriff sicher gespeichert werden müssen. “
Daher ist Tracking mit cloudbasierten Lösungen ein kritisches Thema. Die meisten der großen Cloud-Anbieter im Marketing-Bereich sind US-Firmen. Durch das EuGH-Urteil zum EU-US Privacy Shield fehlt eine belastbare Rechtsgrundlage zur Verarbeitung von Kundendaten auf Servern in den USA. Man kann sich über sogenannte „Standard-Vertragsklauseln“ behelfen, ist dann aber auch in einem starren Konzept bezüglich der Datenverarbeitung.
Trotz Filialsterbens und weniger persönlicher Kontakte in der Pandemie bleibt das Beratergespräch ein wichtiges Element in der Banken- und noch mehr in der Versicherungswirtschaft. Wie lassen sich Online- und Offline-Elemente in einer solchen Kundenhistorie abbilden und datentechnisch unter einen Hut bringen?
Timo von Focht: Hier gilt es, ein zentrales, kanal-agnostisches Kundenmanagement aufzubauen. Für jedes Bank- und Versicherungsprodukt gibt es passende Zeitpunkte, zu denen ein Beratergespräch sinnvoll ist. Wichtige Ereignisse bei den Kunden wie die Geburt von Kindern, Hausbau, Autokauf, Heirat, Tod eines Angehörigen, Auslaufen eines Kredites, Erhöhung eines Kreditrahmens usw. sind bei Banken und Versicherern schon lange bekannte Auslöser für Beratergespräche. Allerdings müssen diese Zeitpunkte – soweit möglich – rechtzeitig identifiziert werden, um ein Gespräch zum passenden Augenblick vereinbaren zu können. Hier können Datenanalysen und Prognosen helfen. So kann auch festgestellt werden, welcher Kanal aus Deckungsbeitragssicht am sinnvollsten ist, denn Kundenberater sind für die Banken und Versicherer kostspielige Ressourcen.
Was kann das Kundenerlebnis neben den Online- und Mobile-Ausspielungswegen gut ergänzen in der Ansprache des Kunden?
Timo von Focht: Banken und Versicherer dürfen laut Gesetz in Deutschland keine telefonische Kaltakquise betreiben. Filialen werden geschlossen oder von den Kunden nicht mehr aufgesucht. Von daher nehmen digitale Kanäle einen immer wichtigeren Stellenwert in der Kundenakquise ein. Banken und Versicherer haben mit dem klassischen Brief aber auch immer noch einen starken Kanal und nutzen in zunehmendem Maße auch E-Mails, Messenger-Programme oder das Online-Konto für die Kundenkommunikation. Video-Chats, Online-Sprechstunden mit Beratern oder auch Apps könnten eine gute Ergänzung sein, um die Kundenbeziehung zu stärken und Kundenbedürfnisse frühzeitig zu identifizieren.
Über Zusatzangebote, kundenfreundlichen Service und offene Kommunikation bei Schwierigkeiten können Banken noch viel tun, um die Kundenbeziehung positiv aufzuladen. Die höchste Priorität sollte aber in der individuellen, personalisierten Kommunikation mit dem Kunden liegen.“
Während es im Online-Marketing in anderen Branchen inzwischen üblich und akzeptiert ist, dass wir auf Schritt und Tritt getracked werden, gibt es im Finanzbereich deutlich weniger Akzeptanz. Wie kann man dem begegnen?
Timo von Focht: Wichtiger als die Masse der Daten ist oft deren Qualität und Zielgerichtetheit. Ohne klare Datenstrategie und Kennzahl-Vorgaben, die zu sinnvollen Aktionen führen, sollte man auch keine Daten tracken. Kundendaten sollten am Ende auch dem Kunden einen Mehrwert liefern, nicht nur dem Finanzhaus. Für die Unternehmen in der Finanzbranche ist die Frage nach der Verfügbarkeit von akkuraten Daten rund um den Kunden eine Überlebensfrage, die es schnell zu lösen gilt. Gerade Banken und Versicherer haben hier den großen Vorteil, dass ich als Kunde deren Briefe öffnen muss, da diese in den meisten Fällen steuerlich, finanziell oder vertraglich relevante Schreiben enthalten. Diesen Vorteil können die Finanzinstitute sich im Marketing zu Nutze machen, vorausgesetzt, sie schaffen auch hier eine möglichst hohe Relevanz und sind bereit, diese Relevanz kontinuierlich zu hinterfragen und ihre Kommunikation entsprechend der Kundenbedürfnisse und des Kundenfeedbacks anzupassen.
Nun ist Machine Learning ja ein beliebtes Schlagwort im Marketing. Doch in der Praxis gibt’s durchaus Grenzen (etwa aufgrund fehlender Fallzahlen und daraus resultierendem langsamen Lernen). Was sind Ihrer Erfahrung nach die Schwierigkeiten beim Einsatz von KI und wie kann man ihnen begegnen?
Timo von Focht: Marketing-Toolanbieter bauen KI-Anwendungen in ihre Lösungen ein, um sich gegenüber dem Wettbewerb abzugrenzen und höhere Preise verlangen zu können. Nicht selten verbergen sich hinter der sogenannten „KI“ jedoch lediglich recht einfache, regelbasierte Algorithmen oder altbekannte statistische Methoden wie lineare Regressionsmodelle.
Softwareanbieter, die Produkte für mehrere Branchen anbieten, nutzen oft denselben Algorithmus für völlig unterschiedliche Branchen, Unternehmen und Gegebenheiten.“
Dies kann zu unerwünschten Resultaten führen, die sich aber gar nicht so einfach überprüfen lassen. Um der Sache auf den Grund zu gehen, ist es sinnvoll, sich einmal mit der Data-Science-Methodik intensiver zu befassen und systematisch vorzugehen. Mein Tipp: Erstellen Sie gemeinsam mit einem interdisziplinären Team klar definierte Use Cases mit begrenztem Umfang und stringenter Erfolgsmessung, sodass ein valider Nachweis über höhere Zusatzumsätze bei Bestandskunden geführt werden kann.
Timo von Focht ist seit Januar 2021 Manager Strategy, Business Development und Operational Excellence beim Beratungsunternehmen Stat-Up. Er studierte Kulturwirtschaft in Passau und war unter anderem für Maxymiser und Adobe sowie Commanders Act tätig.
Wagen wir noch einen Ausblick: Wo werden wir in fünf Jahren im Hinblick auf KI und Machine Learning im Marketing stehen und welche Weichenstellungen können Banken diesbezüglich heute angehen?
Timo von Focht: Moderne Marketing-Lösungen werden dazu beitragen, Machine Learning-Modelle an unterschiedlichen Stellen einzusetzen. Diesen Trend sehen wir heute bereits in vielen Dashboard-Applikationen, die damit werben, möglichst einfach intelligente Schlüsse aus Daten zu ziehen. Was dabei oft vernachlässigt wird, ist der Stellenwert der Datenkompetenz, die notwendig ist, um die Qualität der eingespeisten Daten zu bewerten und die möglichen Probleme bei der Interpretation von Modellen einzustufen. Die größte Gefahr geht davon aus, dass sich vermeintlich datengetriebenes Handeln als Status Quo etabliert, aufgrund fehlender Kompetenzen aber gar nicht erkannt werden kann, wo es zu Fehlschlüssen und damit zu suboptimalen Aktionen kommt. Banken und Versicherer sollten jetzt die Chance nutzen, ihre Digitalstrategie mit ihrer Datenstrategie so zu vereinen, dass ein bereichsübergreifendes Verständnis für die Prozesse der Wertschöpfung aus Daten bei allen Mitarbeitern besteht.
Herr von Focht, herzlichen Dank für dieses Gespräch. tw
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