Moderne Versicherungs-IT: Die technologischen Implikationen des Wandels – vier Trends
Nein, wir sind noch nicht „durch“ mit der Transformation. Selbst, wenn die Versicherungswirtschaft schon so weit wäre wie die Banken, gäbe es keinen Grund zum Ausruhen.
von Fabian Meyer und Martin Groschke, Managing Partner CORE
Das ganze Produktangebot in der Assekuranz, die Prozesse und die Organisationen selbst werden sich weiter wandeln – und zwar immer schneller. Das zeigt ein genauer Blick auf die Technologien, die uns zur Verfügung stehen, die aber bei der Konzeption, dem Vertrieb, dem Abschluss und der Weiterentwicklung eines Versicherungsproduktes noch wenig zum Einsatz kommen.Die aktuellen Trends und Technologien der Versicherungsbranche hat EPAM im Report „Insurance: The Digital Paradox“ untersucht, der von August bis November 2021 aufbauend auf Experteninterviews zur InsuranceCom Conference 2021 in Zürich durchgeführt wurde. Im Mai 2022 lieferte unsere Studie „Versicherungen im Wandel“ ergänzend ein Kompendium von Statistiken und Anregungen aus der umfangreichen Beratungstätigkeit für Versicherungsunternehmen. Das Fazit: Der Technologiewandel ist ein Marathon, kein Sprint.
Vier Trends, die die Wertschöpfungskette verändern Es lassen sich vier wichtige Trends identifizieren, die von den neuen Technologien befeuert werden und die Wertschöpfungskette in der Versicherungsbranche weiter verändern:
Zunächst einmal wandelt sich vor allem der Kunde selbst. In das für die Versicherung relevante Kundenverhalten zählen Aspekte wie die zunehmende Mobilität, die Alterung der Gesellschaft oder der Wunsch nach Nachhaltigkeit. Technologien eröffnen die Möglichkeit, auf solche Entwicklungen zu reagieren. Ein beliebiges Beispiel: Heute wäre es technisch machbar, einem Kunden automatisiert tageweise Reiseversicherungen fürs Ausland anzubieten, sobald sein Mobilgerät einen Grenzübertritt meldet.
Die gesamte Customer Experience kann dazu dienen, den Kunden noch enger ans Unternehmen zu binden. Durch moderne Omnichannel-Vertriebskanäle gewinnen die Versicherer eine größere Kundennähe und können reibungslose Abläufe entwickeln. Die 360°-Sicht auf den Kunden sorgt dafür, dass ein einheitlicher Informationsstand die Beratung erleichtert, unabhängig davon, ob der Kunde nun durch eigene oder fremde Makler oder im Direktvertrieb betreut wird. So können alte Preismodelle aufgebrochen oder spezielle Bundles geschnürt werden.
Die fortschreitende Technologisierung der Branche eröffnet weiterhin viele Chancen. Laut Gartner CIO Survey 2021 schätzen 45% der CIOs von Versicherungsunternehmen den digitalen Entwicklungsstand ihres Unternehmens als “skaliert” oder “optimiert” ein – weniger als in anderen Branchen. Der Hype-Cycle bei Versicherungen ist bislang jenseits von SHUK äußerst langfristig und weniger hektisch als woanders. Für eine Lebensversicherung, die über Jahrzehnte läuft, muss man eben nicht permanent neue Verwaltungssysteme einführen.
Daher werden oft nur die notwendigsten Initiativen angestoßen: Man passt die Systeme an die Regulatorik an oder skaliert sie auf die Geschäftsentwicklung.”
Die „Digital Journey“ geht dann eher hin zur Aktualisierung alter Geschäftsmodelle als zur Entwicklung neuer. Doch IoT und KI verlangen neues Denken – viele FinTechs und Neo-Banken machen es im Bankenbereich vor. Dabei gilt: Cross- und Upselling schaffen keine neuen Produkte, sondern zusätzliche Absatzmöglichkeiten. Die Übertragung ursprünglich branchenfremder Technologien kann Effizienzen in Automatisierung, Convenience und Anwendung bewirken.
Das klassische Beispiel wäre der von Amazon bekannte Empfehlungs-Algorithmus: Wer als aktiver Sportler sein Elektrofahrrad versichert, der könnte bald auch noch eine Drohnenversicherung benötigen.
Schließlich befindet sich das gesamte Ökosystem im Wandel. Die Aufsicht verlangt eine stärkere Fokussierung auf Data Governance. Nach dem Prinzip der „Regulatorik first“ kommen mit VAIT und DORA zugleich auch neue Systeme im Business Continuity Management (BCM), im Identity & Access Management (IAM) oder im Information Security Management (ISM) ins Spiel. Dann sind da die BigTechs: Als Vertriebspartner setzen sie die Versicherer unter Druck. Sie möchten als Infrastruktur-, Entwicklungs- und Business-Plattformanbieter weiter wachsen und ihre Wertschöpfung erhöhen. Vor allem möchten sie aber die Kundenschnittstelle besitzen. Je mehr Informationen über einen Kunden sie ansammeln, desto unverzichtbarer werden sie. Und schließlich werden die InsurTechs dazukommen, die die Wertschöpfungskette umbauen wollen. Auch wenn sie bislang kaum Relevanz erringen konnten, ist ihr Weg klar:
Sie werden anfangs einen zugespitzten Nutzermarkt bedienen, über den sie skalieren, eine Relevanz in der Größe erhalten und sich dann funktional ausbauen. Für die Versicherer bedeutet der stetige Wandel: die eigene Kundenschnittstelle wird immer wichtiger.”
Die Hausaufgabe: Schaffung der besten Voraussetzungen für den Wandel
Autor Fabian Meyer, CORE
Wer die Auswirkungen der aktuellen Entwicklungen ernst nimmt und angemessen reagieren möchte, der sieht sich mit einigen herausfordernden Aufgaben konfrontiert.
Mit den alten IT-Kern-Technologien ist kein Staat mehr zu machen. Zerklüftete, jahrzehntealte Legacy-Systeme mit geringer Integrationsdichte werden den modernen Anforderungen nicht mehr gerecht. Sie erlauben oft nur manuelle oder halb-automatisierte Prozesse, die Systeme leiden unter Abhängigkeiten, langsamen Release-Zyklen oder chronischem Datenmangel.
Entscheidend wäre die Ausrichtung von Architektur und Anwendungslandschaft auf marktdifferenzierende Bereiche, um die Kapazitäten zu erhalten und sich auf das Wesentliche fokussieren zu können. Die organisatorische Weiterentwicklung wird wegführen von aktengeführten Prozessen hin zu ereignisgeführten Prozessen. Nach Conway’s Law sind die Strukturen des Systems immer von den Kommunikationsstrukturen der Organisation vorbestimmt – die modernen Entwicklungsverfahren können hier ein Vorbild sein, ohne das der Umbau nur schwer gelingen wird. An der Nutzung von internationalem Know-how und intensiver Vernetzung führt kein Weg vorbei.
Sechs Ansatzpunkte für die technologische Weiterentwicklung
Unsere Studien haben bei der technologischen Weiterentwicklung der Versicherungsbranche sechs wichtige Problembereiche und mögliche Lösungen identifiziert.
Elementar ist natürlich die Sicherung von Marktchancen. Der Aufbau neuer Geschäftsmodelle ist in der Assekuranz ein schwieriges Unterfangen, deshalb muss es hier vor allem um die Differenzierung gehen, um die Erarbeitung einer klaren, attraktiven Identität in der Marke, aber auch bei den Leistungen, beim Pricing oder beim Schaden.
Um Prozesse und Daten mit weniger Aufwand nutzbar zu machen, bedarf es der Modernisierung der Anwendungslandschaft im Rahmen einer flexiblen, datengestützten Digitalstrategie. Ein Fokus dabei dürfte auch auf der besseren Integration von Partnern liegen.
Mit operativer Effizienz lassen sich die Prozesse beschleunigen und automatisieren. Die bisherigen Hürden beim Online-Abschluss zeigen beispielhaft, dass hier noch viel Potenzial verborgen liegt – wie beispielsweise auch im Schadensprozess, in den Workflows, im Pricing oder in der Produktkonfiguration.
Für die Modernisierung des Vertriebs ist eine ausgereifte Omnichannel-Strategie die Blaupause. Ziel sind dynamische Kundenbeziehungen über alle miteinander vernetzten Kanäle hinweg, vom mobilen Endgerät bis zum Callcenter.
Mit der steigenden Datenqualität wird auch die Beherrschung der Komplexität immer dringender. Dass dank der technischen Integration der Anwendungen immer mehr und bessere Daten vorliegen, ist nur der erste Schritt. Es ist ein langer Weg, bis diese Daten optimal lesbar gemacht und ausgewertet werden und schließlich als verlässliche Grundlage für weitere Entscheidungen etwa in der Produktgestaltung dienen können.
Am Ende ist auch die Gewinnung und Bindung von qualifiziertem IT-Personal eine echte Herausforderung. Für Legacy-Systeme finden sich schon heute kaum mehr Experten. COBOL etwa ist inzwischen längst aus dem Ausbildungskanon der Hochschulen verschwunden und wird höchstens noch aus historischen Motiven heraus unterrichtet. Junge Talente erwarten ein attraktives Umfeld mit agilen Entwicklungsmethoden und End-to-End-Verantwortung. Der Einsatz neuer Technologien dient hier auch dem Recruiting und der Motivation der hoch qualifizierten IT-Spezialisten.
Die Studie „Versicherungen im Wandel“ von EPAM zeigt:
Der Technologiewandel in der Versicherungswirtschaft ist kein Selbstzweck. Er ist Voraussetzung und Treiber der Transformation der Prozesse und auch der Organisation der Akteure.”
Er ist kein einmaliges „Projekt“ mit einem festen Ende. Die immer rasantere Entwicklung der IT wird sich immer stärker auf das Produktangebot, die Kundenbeziehungen und die Organisation der Versicherungen auswirken. Betrachten wir es als eine großartige Chance.Fabian Meyer und Martin Groschke, CORE
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