ARCHIV14. August 2023

Blockchain ersetzt Börsenparkett? Das neue Ökosystem heißt Hanseatische Versicherungsbörse

Dr. Svenja Richartz, Vorsitzende der Hanseatischen Versicherungsbörse e.V. hat die Börse auf die Blockchain gebracht
Dr. Svenja Richartz, Vorsitzende der Hanseatischen Versicherungsbörse e.V.Hanseatische Versicherungsbörse e.V.

Fast 500 Jah­re lang war die Ham­bur­ger Ver­si­che­rungs­bör­se zen­tra­ler Markt­platz für den Aus­tausch von Mak­lern, Ver­si­che­rern und As­se­ku­ra­deu­ren. Bis die phy­si­sche Bör­se durch Fax, Te­le­fon und E-Mail er­setzt und 2018 ein­ge­stellt wur­de. 2019 folg­te der Neu­start. Seit März 2022 un­ter­stützt vom Soft­ware- und Be­ra­tungs­haus PPI be­gann der Auf­bau ei­ner neu­en Ver­si­che­rungs­bör­se – di­gi­tal und auf Ba­sis der Block­chain-Tech­no­lo­gie. Am 1. Ju­ni 2023 ist das neue Öko­sys­tem un­ter dem Na­men Han­sea­ti­sche Ver­si­che­rungs­bör­se (HVB) of­fi­zi­ell ge­star­tet. Im In­ter­view er­klä­ren Dr. Sven­ja Ri­ch­artz, Vor­stands­vor­sit­zen­de der Han­sea­ti­schen Ver­si­che­rungs­bör­se, und PPI-Ma­na­ger Stan Patzsch­ke, wie es zum Bör­sen­neu­start kam und war­um sie da­bei auf die Block­chain-Tech­no­lo­gie setzen.

Frau Dr. Richartz, Wertpapierbörsen kennt vermutlich jeder. Versicherungsbörsen dürften hingegen nur wenigen ein Begriff sein…

Richartz: Kein Wunder, es gibt weltweit auch nur drei Börsen dieser Art: in London, in Rotterdam und eben bei uns in Hamburg. Das liegt daran, dass Versicherungsbörsen hochgradig spezialisiert sind und sich an eine kleine Zielgruppe richten, vor allem aus der See- und Transportversicherung und im kleineren Maße auch der Industrieversicherung.

Im Grunde funktioniert eine Versicherungsbörse aber nicht anders als eine „klassische“ Börse; nur dass hier eben nicht Käufer und Verkäufer von Wertpapieren aufeinandertreffen, sondern Makler und Assekuradeure beziehungsweise Versicherer.

Die Börse dient als Marktplatz, auf der sie Prämien und die Konditionen aushandeln und auch Beteiligungen vergeben.”

Könnten Sie das bitte an einem Beispiel erklären?

Richartz: Ein Unternehmer möchte seine Fracht – eine wertvolle Kunstsammlung – von Asien nach Hamburg transportieren. Er beauftragt seinen Makler, einen geeigneten Partner für die Versicherung des damit verbundenen Risikos zu finden. Die Versicherungsbörse ist der Platz, auf dem solche Geschäfte abgeschlossen werden.

Warum braucht es dafür eine Börse? Bei anderen – auch gewerblichen – Versicherungen gibt es üblicherweise Rahmenverträge, die solche Risiken pauschal abdecken

Dr. Svenja Richartz:
Dr. Svenja Richartz übernahm im Mai 2019 das Ehrenamt als Vorsitzende der Hanseatischen Versicherungsbörse e.V. Sie ist als Head of Legal der HBC (Hanseatic Broking Center) GmbH tätig. In das Pro­jekt mit der PPI bringt sie ih­re Ex­per­ti­se aus ih­rer Tä­tig­keit beim Ver­band Deut­scher Ver­si­che­rungs­mak­ler und ih­rer Tä­tig­keit als Ge­schäfts­füh­re­rin ei­nes mit­tel­stän­di­schen As­se­ku­ra­deurs und nun in der ak­tu­el­len Funk­ti­on für ei­ne Grup­pe von Ver­si­che­rungs­ver­mitt­lern ein.
Richartz: Das geht, wenn die Risiken standardisiert sind. Das ist aber in unseren Fällen – und wir reden hier über den komplexen und hochvolumigen Spezialversicherungsbereich – nicht möglich. Denn hierbei handelt es sich um ein hochgradig individualisiertes Geschäft.

Um im Beispiel des Schiffs aus Asien zu bleiben: Zu welcher Jahreszeit wird der Transport durchgeführt? Mit welchem Transportmittel? Gibt es besondere Herausforderungen an die Materialien und deren Verpackungen? Gibt es spezielle Wetterphänomene oder politische Risiken entlang der Route? Wo und wie wird die Fracht gelöscht, gelagert und gesichert? Diese und viele weitere Faktoren bestimmen den Umfang der Versicherungspolice – und sie unterschieden sich von Fracht zu Fracht. Deshalb müssen die Risiken individuell versichert werden.

Der Makler ist also früher mit diesen Infos zu Börse gelaufen, hat einen passenden Assekuradeur oder Versicherer ausfindig gemacht, die notwendigen Informationen ausgetauscht und das Geschäft per Handschlag besiegelt.”

Das klingt – vorsichtig formuliert – nicht besonders zeitgemäß …

Richartz: Das ist es auch nicht. Das Börsenparkett der Hamburger Versicherungsbörse als physischer Treffpunkt verlor daher zunehmend seine Bedeutung und wurde durch Fax, Telefon und E-Mail ersetzt. Diese Kommunikationsformen haben jedoch entscheidende Nachteile, wie sich herausstellen sollte.

Und welche sind das?

Richartz: Die Fälle in der See-, Transport- und Industrieversicherung sind nicht nur sehr individuell, sondern die Summen der zu versichernden Risiken sind oft auch sehr hoch. Wenige Versicherungen oder Assekuradeure wollen dieses Risiko allein schultern. Für den Makler geht es also darum, Beteiligungen zu finden. Am Ende steht ein Konsortium aus Assekuradeuren und Versicherern, die das Risiko gemeinsam übernehmen. Jetzt stellen Sie sich vor, Sie müssen diese Verhandlungen mit unterschiedlichen Akteuren per Telefon, Fax oder E-Mail führen – ein enormer Aufwand! Vor allem dann, wenn der Transport schon in wenigen Tagen losgehen soll, weil Lieferfristen eingehalten werden müssen.

Hinzu kommt die mangelnde Rechtssicherheit. Denn wie weiß ich zum Beispiel, ob meine E-Mail tatsächlich rechtzeitig und erfolgreich zugestellt wurde? Oder ob der Inhaber der Mail-Adresse überhaupt noch im Unternehmen tätig ist – und wenn nicht, wer der passende Ansprechpartner für mich ist? Bei Geschäften, in denen es im schlechtesten Fall um Millionenschäden geht, kann dies aber entscheidend sein. Ganz zu schweigen davon, dass in den E-Mails zum Teil sensible Betriebsgeheimnisse ausgetauscht werden, noch dazu oftmals unverschlüsselt.

Also zurück zur alten Präsenzbörse?

Richartz: Auf keinen Fall. Denn die Gründe, die gegen eine Präsenzbörse sprachen, hatten ja nach wie vor Bestand. 2019 haben wir uns deshalb überlegt, wie wir den Handelsplatz in das digitale Zeitalter überführen können. Nach einigen Überlegungen haben wir uns für die Blockchain-Technologie entschieden und PPI als Technologiepartner an Bord geholt.

Warum Blockchain?

Richartz: Die Herausforderung bestand darin, ein System zu schaffen, das über ein hohes Maß an Transparenz und Sicherheit verfügt und bei der gleichzeitig jeder Teilnehmer die Hoheit über seine Daten behält.

Außerdem muss validiert sein, dass alle Akteure auf der Plattform über die notwendigen Qualifikationen verfügen, um das anspruchsvolle Versicherungsgeschäft durchführen zu können.”

Stan Patzschke
Stan Patzschke von PPI hat die Börse auf die Blockchain gebrachtStan Patzschke ist Ma­na­ger und Block­chain-Ex­per­te bei der PPI. Er be­schäf­tigt sich seit mehr als sie­ben Jah­ren mit dem Ein­satz der Block­chain-Tech­no­lo­gie in der Ver­si­che­rungs­bran­che. In das Pro­jekt mit der HVB bringt er sei­ne Ex­per­ti­se al­so Pro­duct Ow­ner für das HVB-Öko­sys­tem mit ein.
Patzschke: Die Blockchain erfüllt diese Voraussetzungen. Gerade im komplexen Führungs- und Beteiligungsgeschäft – wenn es also darum geht, dass sich mehrere Versicherer in einem Konsortium zusammenschließen, um gemeinsam Risiken abzusichern – spielt die Blockchain ihre Stärken aus. Denn mit der Technologie können Daten ohne zentrale Instanz ausgetauscht und verwaltet werden – und zwar in Echtzeit, manipulationssicher und für alle Teilnehmer nachvollziehbar, ohne dass die Teilnehmer die Hoheit über ihre Daten verlieren. Das ist ein wesentlicher Vorteil etwa gegenüber der Datenbanktechnologie, bei der die Daten zentral gespeichert werden.

Wie haben Sie denn die Blockchain-Technologie für die Hanseatische Versicherungsbörse umgesetzt?

Patzschke: Wir haben uns für eine private Distributed-Ledger-Technologie (DLT) entschieden. Das heißt, jeder Nutzer erhält einen sogenannten DLT-Knoten, der Voraussetzung ist, um sich an dem Ökosystem anzuschließen. Die private DLT stellt sicher, dass nur verifizierte Akteure, die über die notwendigen Qualifikationen verfügen, an der Plattform angeschlossen werden können.

Die Daten sind dezentral auf den lokalen Servern im DLT-Netzwerk gespeichert, auf die nur das Unternehmen selbst Zugriff hat.”

Ein weiterer wesentlicher Vorteil aus Unternehmenssicht ist die Reconciliation: Die Distributed-Ledger-Technologie sorgt dafür, dass sämtliche Transaktionen validiert werden. Auf diese Weise wird auch zu jeder Zeit dokumentiert, wer welche Daten erhalten hat. Das kann bei einem möglichen Haftungsfall von entscheidender Bedeutung sein.

Bei der Umsetzung des HVB-Ökosystems nutzen wir das DLT-Framework von r3 Corda.”

Dabei handelt es sich um eine für den Finanzmarkt spezialisierte Implementierung der DLT. Das Framework bietet uns die Möglichkeit, private Kommunikationskanäle zwischen den Netzwerkteilnehmern zu eröffnen und den Konsens-Mechanismus auch unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten in einem ressourcenschonenden Verfahren nutzen zu können. Der Konsens-Mechanismus ist der Algorithmus, der gelöst werden muss, um die Daten auf dem Ledger zu validieren.

Richartz: Für uns schafft die Blockchain ein hohes Maß an Transparenz. Um im vorhin genannten Beispiel der Kunstsammlungsfracht zu bleiben: Früher bedurfte es einiges an Recherche, um herauszufinden, wer diesen speziellen Fall überhaupt versichert. Heute liegen diese Infos für alle einsehbar in unserem Ökosystem vor. Es genügt ein Klick und schon erhalte ich einen umfassenden Marktüberblick und kann die Deckung der Kundenbedürfnisse individuell, rechtssicher dokumentiert abstimmen.

Die Hanseatische Versicherungsbörse e.V.
Die Hamburger Versicherungsbörse (Website) wur­de 1977 un­ter das Dach der fünf Ham­bur­ger Bör­sen in­te­griert  – ih­re Ur­sprün­ge ge­hen aber bis 1558 zu­rück. Da­mals wie heu­te fun­giert sie als Markt­platz für die Ab­si­che­rung von kom­ple­xen Ver­si­che­rungs­ri­si­ken, vor al­lem aus dem See-, Trans­port- und In­dus­trie­ge­schäft. Ver­si­che­rer, As­se­ku­ra­deu­re und Mak­ler tref­fen dort auf­ein­an­der, han­deln Prä­mi­en aus und ver­ge­ben Be­tei­li­gun­gen. Ziel ist der Ab­schluss vor­läu­fi­ger Ri­si­ko­de­ckung zwi­schen Mak­ler und Ver­si­che­rer in Echt­zeit. Es gibt welt­weit ge­ra­de ein­mal drei sol­cher Ver­si­che­rungs­bör­sen: ne­ben Ham­burg in Lon­don und Rot­ter­dam.

2019 wur­de die Ham­bur­ger Ver­si­che­rungs­bör­se (HVB) in die Rechts­form des ein­ge­tra­ge­nen Ver­eins über­führt und An­fang 2023 in Han­sea­ti­sche Ver­si­che­rungs­bör­se e.V. um­be­nannt. Sie steht nun auch Markt­teil­neh­mern au­ßer­halb Ham­burgs of­fen. Als ein­ge­tra­ge­ner Ver­ein ver­folgt die HVB kei­ne Ge­winn­erzie­lungs­ab­sicht. Ziel ist es, den Ak­teu­ren am Markt wie­der ei­ne Platt­form zu bie­ten, auf der sie sich aus­tau­schen und Ge­schäf­te ab­schlie­ßen können.

Die Implementierung der Blockchain in das eigene System dürfte gerade “kleinere Marktteilnehmer” vor ziemliche Herausforderungen stellen…

Patzschke: Nicht nur die kleineren, sondern auch die großen Teilnehmer sehen sich in Zeiten von Digitalisierungs- und Transformationsprojekten der Situation ausgesetzt, dass die IT-Bereiche voll ausgelastet sind. Deshalb haben wir uns neben dem Betrieb in der firmeneigenen IT auch für eine as-a-Service-Lösung entschieden. Hier wird der Blockchain-Knoten durch PPI betrieben. Der Teilnehmer erhält seine Zugangsdaten, und schon kann er loslegen.

Am 1. Juli 2023 ist die digitale Versicherungsbörse gestartet. Wie ist die bisherige Resonanz?

Richartz: Uns war es wichtig, von Anfang an eine kritische Masse zu erreichen, um das Netzwerk ins Laufen zu bringen. Das haben wir mit den zehn sogenannten „Early Birds“ erreicht. Dabei handelt es sich um Versicherer, Assekuradeure und Makler, die von Anfang an bei der Entwicklung des Ökosystems dabei sind und sich auch an der Entwicklung beteiligen.

Auch ihrem Engagement ist es zu verdanken, dass wir die Plattform in einer Rekordzeit von weniger als sechs Monaten erfolgreich an den Markt bringen konnten.”

Aber klar ist, dass das Ökosystem langfristig nur erfolgreich sein kann, wenn wir eine möglichst breite Marktdurchdringung erreichen. Wir wollen deshalb weitere Unternehmen anschließen.

Patzschke: Denkbar ist auch, das digitale Ökosystem für weitere Sparten zu öffnen. Denn ein Vorteil der Blockchain-Technologie ist ja gerade ihre Skalierbarkeit und Flexibilität. Im Grunde ist die Plattform für all jene Versicherungsgeschäfte geeignet, in denen Standard-Policen aufgrund der Größe und Komplexität nicht weiterhelfen. Wir sehen zum Beispiel eine Nachfrage im Sach- und Haftpflichtbereich. Viele Sachmakler haben auch die Transportversicherung im Portfolio. Hier ließen sich Synergieeffekte durch einheitliche Prozesse bei der Deckung von kombinierten Risiken erzielen.

Richartz:

Weitere Möglichkeiten sind, in Zukunft den kompletten Vertragsprozess und eines Tages vielleicht sogar die komplette Schadensregulierung über das System abzubilden. Sie sehen: Wir stehen gerade erst am Anfang und haben noch einiges vor.”

Frau Dr. Richartz, Herr Patzschke vielen dank für das Interview.aj

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