Agilität – was heißt das? Lässt sich ‘Agile Softwareentwicklung’ auf Unternehmen übertragen?
Agilität ist „en vogue“, in aller Munde, das Rezept, besser, schneller und effizienter zu sein als die Konkurrenz. Agilität ist das „neue Allheilmittel“ in einer volatilen, unberechenbaren, komplexen und mehrdeutigen VUCA-Welt (VUCA: Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity). Jeder spricht darüber, jeder kennt es, jeder will es haben, und … – keiner weiß genau, was es ist, wie es sich anfühlt und was der Preis dafür ist. Das neue agile Manifest.
von Michael Mayer, Dilligentia
Haben Sie in Google schon einmal versucht, eine allgemein gültige Definition für Agilität zu finden? Die wichtigsten Ergebnisse meiner Suche: 1. “Agilität ist die Fähigkeit einer Organisation, flexibel, aktiv, anpassungsfähig und mit Initiative in Zeiten des Wandels und Unsicherheit zu agieren.“ (www.onpulson.de)2. „Agilität ist ein Merkmal des Managements einer Organisation (Wirtschaftsunternehmen, Non-Profit-Organisation oder Behörde), flexibel und darüber hinaus proaktiv, antizipativ und initiativ zu agieren, um notwendige Veränderungen herbeizuführen.”(wikipedia)
3. „Bei agilen Managementmethoden dominiert die Perspektive der intuitiven und iterativen Entstehung im Gegensatz zur rationalen Planungslogik. Sie entstehen im Kontext digitaler Technologien und sind ein Ansatz für Management bei Ungewissheit.“(wirtschaftslexikon.gabler.de)
4. „Agilität ist ein Mindset, beschrieben durch 4 Werte, definiert durch 12 Prinzipien, manifestiert durch eine Vielzahl von Praktiken, die zu Methoden/Frameworks/Prozessen zusammengesetzt sind“. (Scheller Torsten, Auf dem Weg zur agilen Organisation, Verlag Franz Vahlen, München 2017, S. IX.)
Anscheinend gibt es keine einheitliche Definition von Agilität. Alle reden über Agilität aber jeder versteht, abhängig vom Kontext und seiner Tätigkeit, etwas anderes darunter.”
Agilität ist nicht übertragbar
Allen Definitionen gemeinsam ist, dass sie Agilität als Erfolgsfaktor für das Handeln in einem (komplexen) Umfeld ansehen, was dem lateinischen Wortstamm von Agilität, „agilitas“ (Beweglichkeit/Schnelligkeit) entspricht.
Auch wenn es aus den eingangs erwähnten Definitionen nur indirekt hervorgeht, scheinen klar definierte, für alle verbindliche Werte die Grundlage für Agilität zu bilden. Die Geburtsstunde der Agilität, wie sie heute diskutiert wird, war der Zeitraum vom 11. – 13. Februar 2001, als sich 17 Software-Entwicklungs-Methodiker in Snowbird in Utah trafen. Darunter befanden sich auch die beiden Scrum-Begründer Ken Schwaber und Jeff Sutherland. Sie formulierten damals die zentralen 4 Werte (-Paare) als Grundlage für agile Softwareentwicklung und hinterlegten diese mit konkreten Verhaltensweisen/Regeln (12 Prinzipen).
Im Folgenden finden Sie einen Auszug aus dem damals formulierten „Manifest für agile Softwareentwicklung“:
„Wir erschließen bessere Wege, Software zu entwickeln,
indem wir es selbst tun und anderen dabei helfen.
Durch diese Tätigkeit haben wir diese Werte zu schätzen gelernt:
Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge
Funktionierende Software ist wichtiger als umfassende Dokumentation
Zusammenarbeit mit dem Kunden ist wichtiger als Vertragsverhandlung
Reagieren auf Veränderung ist wichtiger als das Befolgen eines Plans
Das heißt, obwohl wir die Werte auf der rechten Seite wichtig finden,
schätzen wir die Werte auf der linken Seite höher ein.“
Diese Vorgehensweise hat die Softwareentwicklung revolutioniert.”
Im Vergleich zum klassischen Projektmanagement war es auf einmal mit Methoden wie Scrum möglich, komplexe Herausforderungen in einer neuen, flexiblen Struktur, effizient und kundenorientiert zu managen. Es lag deshalb nahe, diese Vorgehensweise und Methoden in einem ersten Schritt auf Projekte außerhalb der Softwareentwicklung zu übertragen und in einem zweiten Schritt ins Management bzw. die Unternehmensführung zu transferieren.
2. Der Ursprung des „Agilen Manifestes für Softwareentwicklung“ war die Verständigung auf ein gemeinsames, individuelles Wertegerüst, das in konkrete Verhaltensweisen/Regeln (Prinzipien) übersetzt wurde. Wertegerüste sind nicht übertragbar – oder würden Sie so ohne Weiteres das Wertegerüst Ihres Chefs oder Ihrer Frau übernehmen wollen? Wertegerüste sind individuell und entwickeln sich von innen heraus!
3. Auch wenn diese Werte explizit nicht erwähnt werden, basieren die angewandten agilen Methoden auf dem Wertpaar Vertrauen/Verantwortung. Beides sind zwei Seiten einer Medaille und bedingen sich gegenseitig. Vertrauen kann es ohne Verantwortung nicht geben und umgekehrt genauso. Agilität ist ohne Vertrauen und Verantwortung nicht möglich!
Unternehmen, welche diese Punkte bei der Einführung von „Agilität“ nicht berücksichtigen, werden damit Schiffbruch erleiden. Agilität ist nichts, das von außen importiert werden kann, sondern etwas, dass sich sukzessive von innen heraus entwickelt.
Ein Versuch einer allgemeingültigen Definition im unternehmerischen Kontext
Agilität ist ein
– individuell entwickeltes Wertegerüst (Mindset)
–von Menschen, die zusammen an einem gemeinsamen Ziel arbeiten,
–das auf Vertrauen und Verantwortung basiert.
Dieses individuelle Wertegerüst wird in konkret formulierte Verhaltensweisen/Regeln (Prinzipen) übersetzt,
– denen sich die Menschen gegenüber verpflichtet fühlen,
–welche die Selbststeuerungs- und Selbstorganisationskräfte von Organisationen, Teams und des einzelnen Individuums stärkt und diese dadurch
–beweglicher, flexibler, anpassungsfähiger – agiler macht.
Das neue agile Manifest
Da viele Unternehmen an der Einführung von Agilität scheitern, ist es an der Zeit, ein neues Manifest zu formulieren, welches oben genannte Faktoren berücksichtigt und den Verantwortlichen in Unternehmen hilft, sich und die Organisation besser an komplexe Umweltbedingungen anzupassen – agiler zu werden. Agilität kann entstehen, wenn Sie diese Werte zu schätzen gelernt haben:
–Gelebte Werte sind wichtiger als Organisationsanweisungen–Vertrauen und Verantwortung sind wichtiger als Planung und Kontrolle
–Verhaltenssteuerung ist wichtiger als Zielsteuerung
–Augenkontakt ist wichtiger als „Mailkontakt“
“Das heißt, obwohl ich die Werte auf der rechten Seite wichtig finde, schätze ich die Werte auf der linken Seite höher ein“. (In Anlehnung an das agile Manifest der Softwarentwicklung)
Die 10 Prinzipien hinter diesen Werten
1. Gemeinsame entwickelte Werte (Mindset) sind die Grundlage agiler Strukturen.
2. Sie sind individuell, orientieren sich am Unternehmenssinn und dienen dem Erhalt des Unternehmens (lebensverlängernde Funktion).
3. Werte geben Struktur, wenn sie mit konkreten Verhaltensweisen verknüpft werden (Erhöhung der Selbststeuerungs- und Selbstorganisationsfunktion).
4. Werte/Prinzipen/Verhaltensweisen sind für alle im Unternehmen verbindlich.
5. Weiterentwicklung findet durch Reflexion der Werte/Verhaltensweisen im jeweiligen Kontext statt.
6. Eine werteschätzende Kommunikation / Feedback-Kultur auf Augenhöhe ist unabdingbarer Bestandteil von Agilität – Jeder darf wertschätzendes Feedback geben / einfordern.
7. Weiterentwicklung des Unternehmens bedeutet die Weiterentwicklung von Individuen auf Basis der gemeinsamen Unternehmenswerte.
8. Maximale Transparenz ist die Basis individueller Weiterentwicklung.
9. Agile Methoden/Tools… werden auf Basis von Experimenten passend zur Wertekultur eingeführt / individuell entwickelt / angepasst.
10. Der Grad der Agilität innerhalb eines Unternehmens wird durch den Grad der Agilität der Führungskräfte (siehe Punkt 1-8) bestimmt.
Agilität ist unabhängig von der Organisationsform
Agil sind deshalb alle Verhaltensweisen (Maßnahmen), die auf einem individuellen, gemeinsamen Wertegerüst basieren und Unternehmen, Abteilungen/Teams und Individuen beweglicher machen – unabhängig von der Organisationsform und unabhängig von den gewählten Praktiken / Methoden / Frameworks und Prozessen.
D.h. auch hierarchisch organisierte Unternehmen und Organisation können Agilität entwickeln, insofern sie auf Basis eines gemeinsamen Wertegerüstes mit konkret definierten Verhaltensweisen agieren, an denen sich das Handeln aller Mitarbeiter ausrichtet. Das System der Über- und Unterordnung von organisatorischen Einheiten bleibt dabei erhalten, jedoch steigen die Freiheitsgerade (Vertrauen) der einzelnen Mitarbeiter. Gleichzeitig verlagert sich die Verantwortung von „oben“ nach „unten“ auf mehr Mitarbeiter. Dadurch steigt die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der gesamten Organisation. In diesem Prozess ist es zwingend erforderlich, dass die Geschäftsleitung und die Führungskräfte eine Vorbildfunktion in Bezug auf die wertebasierten Verhaltensweisen einnehmen.
Es macht keinen Sinn, einfach agile Methoden aus Scrum oder Kanban in das Unternehmen zu ‘importieren’.”
Werte sind „Strukturen normativer Erwartungen, die sich im Zuge reflektierter Erfahrung (Tradition, Sozialisation, Entwicklung einer Weltanschauung) herausbilden. Werte strukturieren das Erkennen, Erleben und Wollen, indem sie Orientierungsmaßstäbe für die Bevorzugung von Gegenständen oder Handlungen bilden.“ (http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/werte.html) D.h. Werte sind höchst individuell. Deshalb kann kein Wertegerüst für Organisationen funktionieren, das von außen importiert wird. Dies ist wahrscheinlich auch der Grund, warum viele Unternehmen bei der Einführung von Agilität scheitern. Es macht keinen Sinn, einfach agile Methoden aus Scrum oder Kanban zu „importieren“ oder die Werte des agilen Konzeptes für Softwarentwicklung eins zu eins übernehmen und überzustülpen. Jedes Unternehmen darf auf Basis seiner individuellen Werte seine eigene Agilität entwickeln.
Die Werte des Einzelnen müssen mit denen der Organisation harmonieren
In Unternehmen finden sich drei unterschiedliche Arten von Wertegruppen: Die individuellen Grundwerte eines jeden Mitarbeiters. Explizite Werte, wie sie z.B. in veröffentlichten Leitbildern zu finden sind und implizierte Werte, die unbewussten, unsichtbaren Grundprämissen der Ist-Kultur. Agilität kann nur funktionieren, wenn sich alle drei Wertegruppen angleichen und sich am Sinn des Unternehmens ausrichten. Peter Drucker, einer der Pioniere der modernen Managementlehre, hat dies vor Jahrzehnten schon auf den Punkt gebracht: „Die Werte eines Einzelnen müssen mit denen der Organisation harmonieren – andernfalls wird er nicht effektiv arbeiten können. Die Werte müssen nicht völlig übereinstimmen, aber doch ähnlich genug sein, um koexistieren zu können.“ Beispiele wo dies nicht funktioniert finden sich tausendfach. Ich habe bisher nur wenige Manager und Führungskräfte getroffen, die spontan in der Lage waren, alle Werte ihres eigenen, im Internet veröffentlichten, Leitbildes zu nennen. Fragt man noch eine Stufe tiefer nach den dahinter liegenden Prinzipien/Verhaltensweisen, öffnet sich eine erstaunliche Leere. Oder glauben Sie, dass die Skandale im Finanzbereich oder der Automobilbranche – ohne Namen zu nennen – einem werteorientierten Handeln entspringen?
Sinn dieses Manifestes
In diesem Sinne soll dieses Manifest Unternehmen helfen, bessere Wege zu erschließen, Agilität zu entwickeln, in dem sie es selbst tun und anderen dabei helfen. Wege deren Fundament aus Vertrauen und Verantwortung besteht und welche die Selbstorganisationskräfte und Selbststeuerungskräfte so stärken, dass sie lebensverlängernd wirken.aj
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