Versicherer WWK modernisiert sein Kernsystem und IT‑Plattform – der Anwenderbericht
Die Zeit der Großrechner bei der WWK ist vorbei. Seit 2019 arbeitet der Versicherer daran, den veralteten Host abzulösen. Heute setzen die Münchener auf eine Standard-Software für die Kernsysteme und auf „Integration Platform as a Service“. „Wir verstehen unsere IT als ein Logistikzentrum für die Datenwelt“, erklärt IT-Leiter Dr. Henri Siemens zusammen mit Tobias Kohl von PPI, der das Projekt mit umgesetzt hat.
Herr Dr. Siemens, seit 1994 erscheint die Chaos-Studie der Standish Group. 70 bis 80 Prozent aller IT-Projekte scheitern demnach oder laufen aus dem Ruder. Warum bei Ihnen nicht?
Dr. Siemens: Ich glaube, wir leben inzwischen in einer Zeit, in der wir anders über Scheitern nachdenken sollten als noch vor 30 Jahren. In meinen Augen scheitert ein Projekt nicht, weil es nicht ganz genau so gelaufen ist, wie geplant.
Wer ein starkes Ziel vor Augen hat, wird viel häufiger als bisher erleben, den eigenen Kurs korrigieren zu müssen.”
Wir haben das auch gemacht und uns während des Projekts für Faktor Zehn entschieden statt der ursprünglich ausgewählten Software. Das hat sich normal angefühlt und nicht wie Scheitern.
Warum lassen sich manche Entscheidungen korrigieren und manche nicht?
Dr. Siemens: Alle Entscheidungen lassen sich korrigieren. Je nachdem, worum es geht, fällt das bloß unterschiedlich schwer. Weil es darauf ankommt, möglichst früh zu erkennen, ob wir noch auf dem richtigen Weg sind oder nicht, halte ich eine starke Vision für wichtig.
Kohl: Klar zu sagen, wo die Reise hingehen soll, hilft auch Dienstleistern. Häufig erfahren wir zwar, welche fachlichen Anforderungen gelten sollen. Welche Philosophie hinter einem Projekt steckt, lässt sich daraus aber nicht immer eindeutig ableiten.
Darum plädiere ich auch dafür, eine nicht-fachliche Vision zu formulieren, um gemeinsam ins Denken zu kommen.”
Welche konkrete Vision ist das in Ihrem Fall, Herr Siemens?
Dr. Siemens:
Über allem steht die IT als ein Logistikzentrum für die Datenwelt. Wir wollen, dass niemand mehr fragen muss, woher eine bestimmte Information kommt.”
Das gilt sowohl für die User als auch die Anwendungen selbst. Konkret heißt das, dass wir die IT-Landschaft dezentralisieren, also die verschiedenen Anwendungen voneinander entkoppeln und über eine Integrationsplattform verbinden. Wir trennen Datenlieferanten, die Informationen ausliefern, und Datenkonsumenten, die diese Informationen verwenden, voneinander. Dafür haben wir ein kanonisches Datenmodell entwickelt, das technisch und fachlich eindeutig ist. In meinen Augen ist das die höchste Form einer losen Kopplung zwischen Anwendungssystemen.
Das klingt nach einer Mammutaufgabe. Wie haben Sie das in vier Jahren gemacht?
Kohl: Hier haben wir „Integration Platform as a Service“ (iPaaS) eingeführt mit konkreten Anforderungen aus einem parallelen Fachprojekt, in dem wesentliche Teile der Anwendungslandschaft erneuert werden.
Mit dem Fachprojekt meinen Sie die Einführung von Faktor Zehn.
Kohl: Genau. Das Bestandssystem von Faktor Zehn ist der erste große Nutzer auf der neuen iPaaS-Plattform. Das bestehende System abzulösen, war fachlich unumgänglich. Darin waren sich alle einig. Daher war auch leichter zu erklären, dass die nächste große Aufgabe darin besteht, das neue System sauber in die übrige Anwendungslandschaft zu integrieren. Dieser Bedarf lässt sich unter normalen Umständen kaum plausibel für Nicht-Techniker darstellen, weil sich die Vorteile einer Integrationsplattform zwar im „Maschinenraum“ schnell einstellen, aber woanders nicht offensichtlich sind. Darum konnten wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Das hat zwar zunächst den Aufwand erhöht, insgesamt aber erhebliche Integrationsaufwände im Fachprojekt eingespart und war damit in Summe kostengünstiger.”
Sonst wäre das alles kaum zu finanzieren gewesen.
Dr. Siemens: Richtig. Etwas rein technisch zu verbessern, dafür finden Sie nie den richtigen Zeitpunkt. Beides auf einmal zu machen war eine Gelegenheit, die wir uns nicht entgehen lassen durften.
Wir sparen zudem bei künftigen Integrationen zwischen 50 und 70 Prozent der Kosten, nicht zuletzt auch dadurch, dass wir Anwendungen unabhängig voneinander ausbauen und verbessern können.”
Diese Integrationsdividende hilft uns dabei, technische Schulden zu vermeiden und künftig schneller am Markt zu sein, wenn wir etwas umsetzen wollen.
Welche Vorteile ergeben sich für die WWK dadurch im Betrieb?
Dr. Siemens:
Der größte Hebel für schnellere Abläufe besteht darin, dass die Architektur jetzt auf Events basiert und nicht mehr mit Batches arbeitet.”
Vor allem dann, wenn die Daten mehrere Anwendungen durchlaufen, macht sich das bemerkbar. Bislang war es so, dass die Kern-IT die Umsysteme versorgt hat. Dadurch ergibt sich eine Kette an Anwendungen, die eine nach dem anderen aufgerufen werden, um einen Geschäftsvorfall zum Abschluss zu bringen. Mit Events melden die einzelnen Anwendungen einen Status, auf den die übrigen Anwendungen reagieren.
So ein Aufbau lässt sich viel leichter orchestrieren.”
Zudem kommen die Daten in den betroffenen Systemen sofort an. Wir haben es also nicht mehr mit Tagesendläufen oder einem monatlichen Batchlauf zu tun, sondern mit einer Near-Realtime-Verarbeitung.
Kohl: Wer iPaaS nutzt, reduziert dadurch auch seine „Frozen Zone“-Zeiten. Gemeint ist der Zeitraum vor einem Live-Gang, in dem nichts mehr an den Systemen verändert wird, um diesen Live-Gang nicht zu gefährden.
Wir setzen uns damit einem viel geringeren Risiko aus, falls doch mal etwas schiefläuft.”
Worauf kommt es Ihrer Meinung nach an, um so ein Doppelprojekt zu stemmen?
Kohl: Die Atmosphäre war ausgesprochen zielstrebig und professionell. Das ist nicht immer so. Wenn mehr als ein Partner beteiligt ist, kann es passieren, dass jeder seinen Kasten versucht sauber zu halten. An den organisatorischen Schnittstellen steigt folglich der Abstimmungsaufwand. Im besten Fall verlangsamt sich das Projekt dadurch bloß. Im schlimmsten Fall scheitert es, weil die eigentliche Arbeit zum Stillstand kommt. Das gilt es zu vermeiden. Darum ist ein offener, an der Sache orientierter Austausch so wichtig.
Dr. Siemens: Dadurch entsteht auch Vertrauen. Und das ist nötig, weil wir uns auch darauf verständigt haben, nach dem MVP-Ansatz zu arbeiten.
Damit das Projekt weiterlaufen kann, haben wir Workarounds bewusst in Kauf genommen und ein Backlog erstellt, um sie später aufzulösen.”
So etwas geht nur, wenn sich alle auf das große Bild konzentrieren und sich nicht für Kleinigkeiten gegenseitig verantwortlich machen.
Kohl: Dabei hat uns das vorher gestartete Fachprojekt ebenfalls geholfen. Einerseits wegen der fachlichen Anforderungen, die für iPaaS bereits bestanden und zu einem festen Termin umgesetzt werden mussten. Andererseits aber auch, weil wir bewährte Arbeitsweisen übernehmen konnten.
Warum haben Sie sich für ein Standardsystem für das Komposit-Geschäft entschieden, anstatt die gesamte IT-Plattform selbst zu entwickeln?
Dr. Siemens: Bestandsführung ist selten marktdifferenzierend und Faktor Zehn erfüllt alle unsere Anforderungen. Uns kam es darauf an, dass unsere Sachbearbeitung ein modernes und übersichtliches System bekommt, das sich vernünftig in unsere Abläufe beispielsweise im Vertrieb oder im Kundenservice integrieren lässt. Komfortfunktionen, wie die, direkt aus dem ebenfalls neuen Schadenssystem Aufträge an Dienstleister vergeben zu können, machen uns das Leben ebenfalls leichter. Es ergibt keinen Sinn, so etwas selbst zu entwickeln, wenn der Markt es bereits in vernünftiger Qualität hergibt.
Kohl:
Aktuelle Marktvergleiche zeigen immer wieder, dass Standard-Software besser und besser wird und auch anspruchsvolle Aufgaben übernehmen kann, etwa wenn es darum geht, Abläufe zu automatisieren.”
Im konkreten Fall war die WWK auch sehr eng mit dem Hersteller verbunden. Wir wussten während des Projekts bereits, wie die Roadmap für Faktor Zehn aussah. Das hat ungemein geholfen, die richtigen Prioritäten zu setzen und doppelte Aufwände zu vermeiden.
Welche Herausforderungen gab es?
Dr. Siemens: Ich glaube, jeder IT-Verantwortliche kennt die Herausforderungen, die sich aus solchen Großprojekten ergeben. Was niemand unterschätzen sollte, ist aber, wie sich einzelne Entscheidungen innerhalb des Projekts auf die Arbeitsweise im späteren Betrieb auswirken können.
Häufig wird übersehen, dass Projekte wie dieses auch einen Change nach sich ziehen, der mit der Technik nur noch wenig zu tun hat.”
Wir haben uns beispielsweise entschieden, mit Faktor Zehn eng am Standard zu bleiben und deshalb liebgewonnene Arbeitsweisen oder auch unsere Begrifflichkeiten daran anzupassen. Das muss man gut verargumentieren, damit alle mitziehen und das Projekt erfolgreich wird.
Kohl: Das halte ich auch für sehr wichtig. Dieser Change sollte idealerweise bereits vor dem eigentlichen IT-Projekt einsetzen, um zu vermeiden, dass sich die bislang gewohnten Muster in die neue Welt einschleichen. Dazu eine kleine Anekdote: im abgelösten System fanden sich Teilschadensfälle im In-/Exkasso wieder. Das soll nicht sein, hatte sich aber bewährt. „Besonderheiten“ wie diese aufzuspüren und rechtzeitig dafür zu sorgen, dass sie als solche erkannt werden, ist wichtig, um während des Projekts und danach keine falschen Kompromisse einzugehen.
Bei historischen Tarifen lauern diesbezüglich besonders viele Fallen.”
Was macht historische Tarife so schwierig?
Kohl: Jeder laufende Versicherungsvertrag ist aus dem Altsystem zu übernehmen. Dabei gilt: Kunden dürfen danach nicht schlechter gestellt sein als vorher. Besserstellen heißt, dass auch nach dem neuen Tarif mindestens derselbe Versicherungsschutz zum selben Beitrag herauskommen muss, wie bei dem alten.
Das Problem: Gegenüber der Aufsicht und auch den Wirtschaftsprüfen müssen die Anbieter dies nachweisen. Darum rate ich dazu, hier besonders sorgsam vorzugehen.”
Dr. Siemens: Hinzu kommt, dass wir auf der Fachseite dasselbe erleben wie bei veralteten Host-Systemen. Diejenigen, die sich mit den alten Tarifen noch auskennen, verlassen nach und nach das Unternehmen. Das sollte man auch im Blick behalten.
Wie wird sich die IT-Plattform weiterentwickeln?
Dr. Siemens: Das hängt jetzt ganz von der Fachlichkeit ab. Wir sind flexibel genug durch iPaaS, um die IT-Landschaft so weiterzuentwickeln, wie wir es uns wünschen. Allgemein gesprochen lässt sich aber sagen, dass wir End-to-End-Prozesse implementieren können, ohne dabei einzelne Komponenten an die jeweils anderen anpassen zu müssen. Das ist ein großer Fortschritt. Weil wir durch IPaaS auch die bislang bestehenden Abhängigkeiten reduziert haben, können neue Module live-gehen, sobald sie fertig sind.
Wir sind nicht mehr an einige wenige Release-Termine gebunden. Und schließlich erlaubt uns die jetzt geschaffene Architektur, auch die übrigen Systeme, die wir für veraltet halten, sukzessive zu ersetzen …”
… damit haben wir das erreicht, was man vielleicht einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess nennen würde. Ich nenne es eine sich ständig selbst erneuernde IT.
Herr Dr. Siemens, Herr Kohl, vielen herzlichen Dank für das offene Gespräch!aj
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